
Foto: Ora Tesama, KKL-JNF Fotoarchiv
Das fünfzig Tage nach Yom Kippur begangene Sigd-Fest ist der wichtigste Feiertag der äthiopischen Juden. Es ist auch ein israelischer Nationalfeiertag. Vor dem Sigd-Fest 2020 (am 15. November) führten wir ein Interview mit Ora Tesama, der Leiterin des »Hauses der Freundschaft«, eines Gemeinde- und Kulturerbe-Zentrums für äthiopische Juden in Kiryat Bialik.
Vor dem von den äthiopischen Juden gefeierten jährlichen Sigd-Feiertag schildert Ora Tesama, die Leiterin des »Hauses der Freundschaft« in Kiryat Bialik, ihre Vision davon, wie sich die Integration des äthiopischen Judentums in die israelischen Gesellschaft gestalten sollte. Das »Haus der Freundschaft« ist ein Gemeinde- und Kulturerbe-Zentrum für äthiopische Juden in Kiryat Bialik.
»Wir haben das »Haus der Freundschaft« 2018 gegründet, mit dem Ziel, nicht nur ein Gemeinde- und Kulturerbe-Zentrum für äthiopische Juden zu schaffen, sondern auch eines, das für die gesamte Einwohnerschaft von Kiryat Bialik zu einem Begegnungsort wird«, erklärt Frau Tesama, »heute, zwei Jahre später, darf ich mit Gewissheit feststellen, dass sich all unsere Träume erfüllt haben.«

Foto: Ora Tesama, KKL-JNF Fotoarchiv
Durch ihre Lebensgeschichte kennt Ora Tesama die Herausforderungen, mit denen sich die äthiopischen Olim, also die Neueinwanderer, in Israel auseinandersetzen müssen, hautnah aus eigener Erfahrung. Im Alter von zehn Jahren machte sie sich im Rahmen der Operation Moses auf den mühsamen Weg von Äthiopien über den Sudan nach Israel. Nach Abschluss des renommierten Gymnasiums von Kfar Chassidim begann sie als Mitarbeiterin des Ministeriums für die Integration von Neueinwanderern mit äthiopischem Olim zu arbeiten. Später diente sie auch als Gesandte der Jewish Agency in Äthiopien. 2014 wandte sich die Gemeindeverwaltung von Kiryat Bialik an Frau Tesama und bat sie um ihre Hilfe im Umgang mit dem großen Zustrom von äthiopischen Einwanderern, die sich im Tzur-Shalom-Viertel der Stadt niedergelassen hatten.
»Während dieses Zeitraums nahm die Vision vom Schaffen eines kulturellen und pädagogischen Zentrums für äthiopische Juden allmählich Form an«, erklärt Ora Tesama. »Ich wusste, dass diese Menschen aus Äthiopien etwas brauchten, um sie in ihrer Gemeinschaft zu bestärken und ihnen zu ermöglichen, auch weiterhin ihr Kulturerbe aktiv leben zu können.“ Es war deutlich zu erkennen, dass sie größere Integrationsschwierigkeiten hatten als andere Einwanderergruppen in Israel. Die meisten stammten aus abgelegenen Dörfern in Äthiopien und hatten noch nie zuvor Erfahrungen mit einer modernen Stadt und fortschrittlichen Wirtschaftssystemen gesammelt. Sie hatten auch niemals zuvor Elektrizität benutzt. Nun waren ihre Familienverbände auseinandergerissen worden und ihre traditionellen Werte und Glaubenssätze standen vor einer enormen Herausforderung.«
Welche Vorteile bringt das »Haus der Freundschaft« den Neueinwanderern aus Äthiopien?
»Das Haus der Freundschaft ist ein Gemeindezentrum in wahrsten Sinn des Wortes. Es dient der gesamten äthiopischen Einwanderergemeinde in Kiryat Bialik und über dessen Grenzen hinaus, vom Kindergarten bis zum Seniorenalter. Die Architektur dieser ansprechenden Einrichtung wurde vom traditionellen äthiopischen Tukul beeinflusst, einer Lehmhütte mit konusförmigem Strohdach, die von ausgedehnten Freiflächen umgeben ist. Wenn die äthiopischen Olim nun hierherkommen, ist ihnen völlig klar, dass dies ihr Zuhause ist. Es erinnert sie an das Heim, das sie zurücklassen mussten. Hier haben sie das Gefühl, zusammenkommen zu können, ohne sich wegen ihrer traditionellen Bräuche fremd zu fühlen. Gleichzeitig lernen sie aber auch Hebräisch und werden ganz allmählich mit unserem israelischen Lebensstil vertraut gemacht.«
Welche Rolle spielt KKL-JNF beim »Haus der Freundschaft«?
»KKL-JNF spielt hierbei eine enorm wichtige Rolle. Der gesamte Garten und das Freigelände rings um das Gebäude, darunter auch die langen Pfade durch die anliegende Landschaft, wurden vom KKL-JNF geschaffen. Das ermöglicht den Olim, mit der Natur verbunden zu bleiben, so, wie sie es in ihren kleinen abgelegenen Heimatdörfern gekannt hatten. Weiter schafft KKL-JNF dieser Tage auch einen Gemeindegarten gleich neben dem Gebäude, wo Kinder und Erwachsene Gemüse und Kräuter anbauen können, so wie sie es früher einmal in Äthiopien getan hatten. Dabei muss wohl kaum erwähnt werden, dass die gesamte Anlage, einschließlich Gebäuden und Garten, ausgesprochen ästhetisch und attraktiv gestaltet ist. Es hat nicht lange gedauert, bis auch die allgemeine Öffentlichkeit begann, sich dafür zu interessieren. Heute wird unsere Einrichtung von sämtlichen Gruppen der Gesellschaft häufig in Anspruch genommen. So finden hier bei uns zum Beispiel Lehrertagungen statt, ebenso die Fortbildungskurse einer ganzen Reihe von Organisationen und Konferenzen der Polizei oder der Kommunalverwaltung. Die Liste ist endlos.«

Foto: Ora Tesama, KKL-JNF Fotoarchiv
Welche Wirkung hat das auf die äthiopischen Olim?
»Das Ergebnis ist bemerkenswert. Als uns bewusst wurde, dass unsere große und schöne Anlage bei so vielen unterschiedlichen Gruppen und Organisationen gefragt war, beschloss ich, diese kostenfrei an sie alle zu vermieten − vorausgesetzt, sie gestatten den äthiopischen Olim, an ihren Tagungen teilzunehmen. Dadurch wurde das »Haus der Freundschaft« zu einer wichtigen Begegnungsstätte zwischen äthiopischen Neueinwanderern und alt eingesessenen Israelis, was die Olim auch mit allen erdenklichen neuen Themen- und Gedankenwelten konfrontiert. Das System funktioniert und hat wahre Wunder geschaffen. Der Erfolg der letzten beiden Jahre lässt sich an der großen Zahl der Menschen messen, die das Haus der Freundschaft und seine Angebote in Anspruch genommen haben. Dies ist ein Ort, der seinen Benutzern respektvoll begegnet und im Gegenzug dafür auch von diesen geachtet wird.«
Inwiefern hat die Covid19-Pandemie Ihre Aktivitäten im Verlauf der vergangenen acht Monate beeinflusst?
»Im Verlauf der fortwährenden Corona-Krise haben der Umfang und das Volumen unserer Arbeit nur weitere Höhepunkte erreicht und deutlich gezeigt, wie lebenswichtig unsere Einrichtung inzwischen für die Stadt geworden ist. So beherbergen wir derzeit zum Beispiel vormittags fünf Schulklassen einer nahegelegenen Schule, die nicht genügend Klassenzimmer besitzt, um ihre Schüler in die erforderlichen kleinen „Kapseln“ aufzuteilen.«

Foto: Ora Tesama, KKL-JNF Fotoarchiv
Das äthiopische Sigd-Fest steht nun unmittelbar vor der Tür. Wie wollen Sie es dieses Jahr begehen?
»Aufgrund der Covid19-Bestimmungen fällt die Feier dieses Jahr natürlich anders aus. Das ist enttäuschend, da unsere beiden ersten Feiern fantastisch waren. Wir haben sie unter Anwesenheit von großen Publikumsmengen in den wunderschönen KKL-JNF-Gärten abgehalten. Es waren ganz besondere Veranstaltungen mit viel Gebet, Musik und Tanz. Dieses Jahr, wo es gilt, die Leute daran zu hindern, sich zu versammeln, damit sie einander nicht gegenseitig gefährden, haben wir beschlossen, ein mit Lautsprechern bestücktes Fahrzeug in Größe eines Vans, der der Stadtverwaltung gehört, einzusetzen, der den ganzen Tag durch die von Äthiopiern bewohnten Viertel fährt und die traditionelle äthiopische Musik wie die Gebete vorspielt. Dadurch wollen wir den Geist und die Stimmung des Feiertags auch dieses Jahr in die Stadt hinaustragen.«